Oriole

(Oriolus oriolus)


SZ: Herr Eulberg, in Ihrem Buch „Mikroorgasmen überall“ erzählen Sie von der Raffinesse und Mannigfaltigkeit der Natur vor unserer Haustür. Was ist Ihr Lieblingsmikroorgasmus?

Dominik Eulberg: Ah, da gibt es einige. Derzeit bereitet es mir eine tiefe Freude, die Mauersegler zu beobachten, die ja wieder da sind. Wenn man sich vorstellt, dass dieser Vogel nahezu sein ganzes Leben in der Luft verbringt, dass er dort trinkt, frisst, sich paart und schläft, dass so ein kleiner Vogel in seinem Leben vier Millionen Kilometer zurücklegen kann, dann bringt das in mir etwas zum Schwingen. Diese tiefe Freude ist wie ein kleiner Orgasmus, weil sie so wahrhaftig ist. Und eine solche Schwingung möchte ich auch in anderen erzeugen, damit wir unseren Mitbewohnern und Mitbewohnerinnen in der Natur mit Respekt begegnen.

Sie verstehen sich darauf, mit „Wunderfakten“ Leute für die Natur zu sensibilisieren. Wann haben Sie zuletzt gestaunt?

Ich staune täglich über neue Entdeckungen. Zum Beispiel bin ich für mein neues Buch „Tönende Tiere“ der Frage nachgegangen, warum der Pirol im Volksmund auch Regenkatze genannt wird. Regenkatze? Ich musste ein paar dicke Fachbücher wälzen, bis ich fündig geworden bin. Katze, weil er einen fauchenden Ruf in seinem Repertoire hat. Und Regen, weil er es liebt zu duschen. Dazu lässt er sich kopfüber vom Baum hängen und nimmt eine Fledermausstellung ein. Heute hatte ich eine tolle Exkursion mit der Sielmann-Stiftung in der Döberitzer-Heide, da kam ich aus dem Staunen gar nicht mehr raus: Rotbauchunkenkonzerte, Trichter des Dünen-Ameisenlöwens, Schlangenmimkry des Wendehalses, die raketenschnellen Feldsandlaufkäfer und und. Da fühle ich mich immer wie ein Kind im Süßigkeitenladen.

Viele Menschen haben Mitleid mit den letzten Eisbären, ihre Begeisterung für die Spinne an der Wand oder die Ameisen im Garten hält sich indes in Grenzen. Können Sie das nachvollziehen?

Überhaupt nicht. Menschliche Definitionen von Intelligenz oder Schönheit sind ja keine Währung der Evolution. Wenn ein Lebewesen existiert, dann hat es sich über meist Millionen von Jahren durchgesetzt und somit seine Berechtigung. Da müssen wir höllisch aufpassen: Jedes Lebewesen ist ein Zahnrädchen in einem hochkomplexen System der Biosphäre, wo alles in feinsten Nuancen und Balancen zueinandersteht. Egal, ob man das hübsch oder eklig findet, wenn ein Zahnrädchen rausfällt, hört die Uhr auf zu ticken.

Seit Jahren ist bekannt, dass es ein drastisches Artensterben gibt. Vor unserer Haustür verschwinden die Insekten, die Amphibien und die Vögel. Was muss Ihrer Ansicht nach geschehen?

Da geht es um systemische Probleme die sich nicht auf die kleine Frau oder den kleinen Mann abwälzen lassen. Die ganzen Appelle, den eigenen Garten bienenfreundlich anzulegen oder Nistkästen aufzuhängen, halte ich für zu klein gedacht, auch wenn hier die Artenvielfalt gar höher ist als im Umland. Wir müssen aber aufpassen, dass wir da nicht den Überblick verlieren. Nur sieben Prozent der 585 Wildbienenarten in Deutschland gehen in ein Insektenhotel. Gerade einmal neun Prozent der heimischen Insekten ernähren sich von Pollen und Nektar.

Und die anderen 91?

Die meisten leben parasitoid, ernähren sich also von einem Wirt und töten ihn, beispielsweise die Kuckucksbienen. Das klingt gruselig, ist aber die häufigste Form der Ernährung bei Insekten. Knapp ein Viertel der hier vorkommenden Insektenarten ernährt sich so.

Was also muss sich ändern?

Das Konsumverhalten etwa. Wie teuer ist billig? Schlechte Lebensmittel, die aus Massentierhaltung stammen und das Grundwasser versauen, dürfen nicht subventioniert werden. Wir müssen Agrarsubventionen gerecht nach Gemeinwohl verteilen und nicht nach Fläche. Ackergifte gehören verboten. Sie sind maßgeblich für das Insektensterben und damit auch das Vogelsterben verantwortlich. Jahrzehntelang haben wir mit Insektenvernichtungsmitteln die Insekten vernichtet und wundern uns jetzt das sie vernichtet sind. Massentierhaltung gehört verboten. 60 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen in Deutschland werden dafür benutzt, Tierfutter anzubauen – für Tiere, die wir meist in Ställen halten. Das ist ein riesiges Problem, da die ökologischen Kreisläufe nicht mehr funktionieren. Was wir stattdessen brauchen, sind große wilde Weiden.

Wilde Weiden, warum?

Weil unser autochthones Ökosystem dafür ausgelegt ist. Früher gab es hier große Pflanzenfresser, die Ökoingenieure waren, etwa die Vegetation kurz gehalten haben. Wir hatten hier zwei Elefantenarten, zwei Nashornarten, Flusspferde, Wasserbüffel, Auerochsen. Deshalb gab es viel weniger Wald als heute. Dazu muss man wissen, dass in geschlossenen Wäldern nur zehn bis 20 Prozent unserer heimischen Tier- und Pflanzenarten leben. Die übrigen 80, 90 Prozent brauchen offenes Land. Große Weidetiere sind zudem hervorragende Produzenten von Biomasse. Man sagt, tausend Kilo Rind produzieren 100 Kilo Insektenbiomasse pro Jahr. Eine gute Basis für die Nahrungskette.

Wir müssten also die Elefanten durch Rinder ersetzen?

Durch Rinder, Pferde, Wasserbüffel – keine Schafe, die waren nie Teil dieses Ökosystems und rupfen nur alles kahl. Laut Berechnungen der Universität Aarhus sollte auf ein bis zwei Hektar Land ein Rind kommen – eine sehr extensive Haltung also. Wunderbar nachlesen kann man das auch alles in Jan Hafts großartigem neuen Buch über Wildnis. Ganz wichtig wäre noch ein Biotopverbund. Nicht hier ein Schutzgebiet und da ein Schutzgebiet und dazwischen 600 Kilometer Abstand. Wenn jede Gemeinde eine große wilde Weide hätte, könnten Tiere und Pflanzen dazwischen wie auf Trittsteinen migrieren, der Gen-Austausch würde funktionieren.

Nun sind Sie nicht nur Biologe, sondern auch ein international gefragter Techno-DJ. Wann hatten Sie den Gedanken, Natur in Ihre Musik zu packen?

Von Anfang an. Musik hat mich in meiner Kindheit gar nicht interessiert. Leute, die „I love youuu“ singen, waren mir zu affektiert. Viel lieber mochte ich den Gesang der Vögel, die Stridulationslaute der Heuschrecken, das Plätschern des Bachs. Bis ich dann zum ersten Mal elektronische Musik gehört habe: Techno-Musik, die so gut diesen apodiktischen Fluss des Lebens abbildet, das Immerwährende, Pulsierende, die phänologischen Zyklen der Natur. Panta rhei. Techno-Musik ist ein Strom des Lebens, in den man springen kann. Musik korreliert mit unserer Herzfrequenz. Wenn wir Chillout-Musik hören, haben wir einen Herzschlag von 60 bis 80, wenn wir zu Techno tanzen, haben wir einen Puls von 130, und genauso hoch ist die BPM-Zahl, also die Beats-per-Minute-Zahl. Es gibt eine klare Korrelation zwischen Herzschlag und Musik, deshalb finden wir das alle so toll.

Wir alle?

Dass wir gerne zu einem monotonen Vier-Viertel-Rhythmus tanzen liegt an einer pränatalen Prägung. Der Herzschlag ist das erste, was wir im Mutterleib hören, das ist unser Taktgeber und verbindet alle Kulturen. Was spannend ist: Der Mensch ist das einzige Wesen, das sich im Kollektiv zu einem externen Impuls synchronisieren kann. Kakadus können vielleicht zu einem Beat mit dem Kopf wackeln. Aber tausend Kakadus gleichzeitig können das nicht. Menschen können das. Und das ist entscheidend für die Geschichte der Menschheit. Wie wurden die Pyramiden gebaut? Wie die Boote gerudert? Da gab es Taktgeber. Da wurde Kraftanstrengung zu Impulsen gebündelt. Das erst hat uns zu einer Hochkultur gemacht.

Um welchen Impuls geht es bei Techno?

Der Grundwert ist Diversität. Sozialer Status, sexuelle Ausrichtung, religiöse Angehörigkeit – das alles ist wurscht auf der Tanzfläche. Da geht es um ein kollektives Zelebrieren der Lebensfreude. Diversität ist keine romantische Folklore, sondern ein uraltes Prinzip der Natur zum Erhalt des Lebens.

Wie genau kamen nun die Pieps in Ihre Beats?

Anfang der Neunzigerjahre habe ich mir einen Synthesizer gekauft, die waren damals noch sehr teuer. Die ganze Computer-Technologie stand noch nicht zur Verfügung. Mit einem Tonbandgerät meines Vaters hatte ich auch schon immer Vogelstimmen aufgenommen und sie als Klangquellen dann hineingeschnitten, zunächst aus der Not heraus, weil ich nicht genügend Synthesizer hatte. Später habe ich das dann gezielt gemacht. In meinem neuen Buch „Tönende Tiere“ bin ich noch weitergegangen und habe die Tierstimmen transkribiert, Note für Note. Es ist Wahnsinn zu hören, wie virtuos die Natur ist. Vögel machen seit 33 Millionen Jahren Musik. Homo sapiens gibt es erst seit 230 000 Jahren.

Warum hören wir diese Musik im Alltag nicht?

Die meisten Vögel singen mit einer Frequenz von 2000, 3000 Hertz aufwärts, was in unseren Ohren wie ein recht gleichförmiges Zwitschern klingt. Deshalb habe ich die Stimmen tiefer oktaviert. Das eigentliche Problem aber ist: Die Menschen hören nicht mehr richtig zu. Laut einer Studie können nur noch drei Prozent der deutschen Bevölkerung den Buchfink, knapp hinter der Amsel unsere häufigste Brutvogelart, am Gesang erkennen. Da wollte ich Abhilfe schaffen. Wie macht ein Fuchs? Wie macht ein Reh? Viele wissen das nicht mehr. Wie sollen wir etwas schützen, das wir nicht kennen? Im Buch sind QR-Codes, die man scannen kann, dann hört man die Stimmen und ab der zehnten Sekunde die Transkriptionen. Die Tierstimme fällt dann gegen Ende des Liedes peu a peu weg, und übrigbleibt ein Musikstück, das zu hundert Prozent von einem Tier komponiert wurde. Das hat es noch nie gegeben.

Als DJ haben Sie sich einen Namen mit Ihrem speziellen Natur-Sound gemacht. Klingt das nur schön, oder schwingt da mehr mit?

Da schwingt mehr mit. Es geht um Sensibilisierung. Die braucht es, um Ideen mehrheitsfähig zu machen. Im Jahr 2003 bin ich mit meiner Musik sehr erfolgreich geworden, wurde Produzent des Jahres, German Dance Award, jeder wollte mich haben, ich bin um die ganze Welt gereist. Erst dachte ich, ich mach das jetzt mal ein Jahr, weil ich nicht wirklich Lust hatte, Musiker zu werden. Aber dann wurde mir klar: Du kannst mit der Musik viel mehr Menschen erreichen als bei biologischen Führungen durch einen Nationalpark. Da wissen die Leute ohnehin meistens schon Bescheid. Die Musik hingegen ist eine wunderbare Bühne, um als Künstler neue Sensibilisierungsgründe zu erschließen. Und das ist wichtig. Kognitiv lässt sich der drohende Ökozid nicht lösen. Vor über 50 Jahren hat der Club of Rome seinen Bericht „Die Grenzen des Wachstums“ veröffentlicht, Rachel Carsons „Der stumme Frühling“ erschien gar vor über 60 Jahren... Wir haben es nicht begriffen.

Wenn es über den Kopf nicht klappt, wie dann?

Über die emotionale Schiene. Die Brüder Humboldt haben schon vor 200 Jahren angeregt, in der Bildung Kunst und Wissenschaft gleichermaßen zu fördern, um einen holistischen Blick auf die Welt zu gewinnen. Das ist mein Ding: Naturschutz als positive Lebensphilosophie. Kunst, Kultur und Musik sind lustvolle Vektoren, mit denen man die Leute ganz anders erreicht und emotionalisiert. Was wir lieben und schätzen, schützen wir automatisch. Das ist mein Weg. Und es gibt Studien über soziale Kipppunkte, die mir da große Hoffnung machen. Die Frauenbewegung ist ein gutes Beispiel. Eine Minderheit von Aktivistinnen hat im 19. Jahrhundert die Welt nachhaltig verändert.

Wie könnte das im Hinblick auf das Artensterben und die Klimakrise aussehen?

Der Mensch ist ein Herdentier. Wenn er sieht: Hey, den anderen geht es damit ja viel besser als mir, die leben gesünder, gerechter und nachhaltiger, das will ich jetzt auch haben, dann schwappt das ganz schnell über. Dann werden aus fühlenden Minderheiten Mehrheiten. Ohne Verbote, ohne Brechstange. Sondern lustvoll. Das Lustvolle ist der Motor der Evolution. Nicht das protestantische Verbot.

Eine interessante These. Können Sie die an einem Beispiel belegen?

Schauen Sie sich einen Eisvogel an, wahrlich ein fliegender Edelstein! Oder Totenkopfschwärmer-Raupen – da wachsen gerade einige in unserem Wohnzimmer heran. Sie sehen aus wie Zuckerstangen vom Jahrmarkt. In ihnen zeigt sich das überbordend Schöne der Natur. Sie ist die größte Künstlerin von allen. Da wird unmittelbar ersichtlich, dass das Lustvolle der Motor der Evolution ist.

Am 20. Mai laden Sie zu einer Biodiversitätsshow bei der Stiftung Kunst und Kultur in Nantesbuch ein. Was darf man sich darunter vorstellen?

Das ist eine multimediale und transdisziplinäre Show, bei der ich als Künstler, Musiker und Wissenschaftskommunikator auf die Bühne gehe und dort erkläre: Was ist Biodiversität? Warum ist sie eine Überlebensversicherung für uns? Über tolle Bilder, Musik und Animationen rege ich das kindliche Staunen an. Staunen ist der Anfang einer jeglichen Erkenntnis.

Danach legen Sie auf. Mit welchen „Wunderfakten“ würden Sie Naturfans, die noch nie zu Techno getanzt haben, ermuntern, den Schritt auf die Tanzfläche zu wagen?

Es ist ein wunderbares Gefühl, mit anderen Menschen zu einem Kollektiv zu verschmelzen und in einen zeitlosen Raum einzutauchen. Da werden Glücks- und Bindungshormone ausgeschüttet, das Immunsystem wird gestärkt. Das ist Wellness.